Von Benedikt Bögle

Wissenschaftler verschwinden – auf der ganzen Welt. Bekannte Koryphäen ihres Faches sind von heute auf morgen spurlos verschwunden. Die Ermittler um den britischen Inspector Jessop vermuten weniger ein Verbrechen als die freiwillige Flucht: Befinden sich die Wissenschaftler in einem kommunistischen Staat, dem sie ihre Erkenntnisse und Fähigkeiten lieber zur Verfügung stellen als der freien westlichen Welt? Für Jessop bietet sich eine Chance, seinen Vermutungen nachzugehen: Die Frau eines der verschwundenen Männer stirbt bei einem Flugzeugabsturz. Der Ermittler vermutet, sie war auf dem Weg zu ihrem verschollenen Ehemann; durch Zufall entdeckt er mit Hilary Craven eine junge Frau, die der Verstorbenen nicht nur verblüffend ähnlich sieht, sondern auch den Wagemut aufbringt, sich für sie auszugeben. Und tatsächlich: Es dauert nicht lange, bis auch Hilary verschwindet. Mittelsmänner lotsen sie zu ihrem vermeintlichen Ehemann.
Der befindet sich indes in einem geheimen Forschungszentrum mitten im Atlasgebirge. Unklar ist, wem das Zentrum gehört, wer es leitet, welche Ziele die Einrichtung eigentlich verfolgt. Klar ist nur: Finanzielle Mittel sind beinahe unbeschränkt, die Wissenschaftler haben alles, was ihr Herz begehrt – außer Freiheit: Sie müssen im Geheimen agieren und forschen. Sie leben im goldenen Käfig. Agatha Christie hat mit „Der unheimliche Weg“ ein für sie eher ungewöhnliches Buch geschaffen. Es geht weniger um die klassische Ermittlung in einem Mordfall, kaum um die intelligente Betrachtung einer Straftat. „Der unheimliche Weg“ ist viel eher eine Gesellschaftskritik. Christie stellt tiefschürfende Fragen: Welchen Preis sind wir als Gesellschaft bereit zu zahlen, wenn es um wissenschaftlichen Fortschritt geht? Was ist Freiheit? Welche Rolle spielt die Würde jedes einzelnen Menschen?
Kaum muss man erwähnen, dass am Ende des Romans natürlich die Aufklärung des großen Geheimnisses steht. Aufgedeckt wird, wer hinter dem Projekt steht und welche Ziele er verfolgt. Und wie in jedem Christie-Roman stehen auch hier am Ende einige Drehungen und Wendungen, die den Leser doch noch überraschen können. Ein spannender Roman, der nachdenklich macht – und dabei alles andere als ein „klassischer“ Christie.
Agatha Christie: Der unheimliche Weg
Atlantik Verlag 2021, 282 Seiten, EUR 12