Eine Geschichte Europas

Von Benedikt Bögle

Eine Geschichte Europas zu schreiben, erscheint aussichtslos. Denn: Europa ist ein fließendes Gebilde; eine europäische Geschichte müsste die der Türkei wohl ebenso sein (zumindest über weite Jahrhunderte hinweg) wie die Schwedens. Europäische Geschichte beginnt mindestens mit den alten Griechen – eine enorme Zeitspanne. Und dennoch hat sich der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer an eine derartige Geschichtsschreibung gewagt: „Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen“ ist bei Penguin erschienen. Im Vorwort weist der Autor völlig richtig auf die Schwierigkeit seines Unterfangens hin, wenn er schreibt, es könne sich bei einem derartigen Buch nicht um eine „vollständige Geschichte der europäischen Kultur handeln“. Bemerkenswert erscheint mir der Plural des Titels: Europa hat nicht eine Geschichte, wie es wohl auch nicht eine Kultur hat. Europa ist ein Plural.

Copyright: Penguin

Seine Darstellung beginnt Wertheimer sodann bei den Mythen der Griechen, bei Homers Ilias und Odyssee. Von dort her entwickelt sich seine Geschichtsschreibung über die Bildung der Polis, den Aufstieg Roms, die Verfolgung und den Siegeszug des Christentums. Auf die Antike folgen Völkerwanderung und ein „christliches Abendland“ mit Fragezeichen, die beginnende Neuzeit und Aufklärung, schließlich das 20. Jahrhundert. Selbst auf mehr als 500 Seiten kann natürlich eine Geschichte von über 3.000 Jahren nur kursorisch sein. Wertheimer selbst weist darauf hin, der Stoff hätte auch anders gesammelt und bewertet werden können. Und sicherlich: Hätte nicht das europäische Judentum ein eigenes Kapitel verdient? War nicht eher die Reformation um Martin Luther eine der großen Zäsuren der europäischen Geschichte, die es ein wenig mehr ausgeführt zu werden verdient hätte?

Aber sicherlich, das ist eben das Manko derart breiter Darstellungen, deren Sinnhaftigkeit man sicherlich auch hinterfragen kann. Muss das sein – die ganze europäische Geschichte auf 500 Seiten? Nun, Detailwissen lässt sich wohl nicht sehr gut darstellen. Aber doch schafft Wertheimer es ganz gut, die großen Linien und Entwicklungen des heterogenen Gebildes, das wir „Europa“ nennen, darzustellen. Immer wieder geht der Autor auf die Literaten der dargestellten Epochen ein, bisweilen auch auf bildende Künstler. Das macht seine Texte abwechslungsreich; sie sind zudem sehr gut zu lesen. Lediglich seinen Ausführungen zu Kirche und Theologie kann sich der Autor dieser Zeilen nicht anschließen.

Jürgen Wertheimer: Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen
Penguin 2020, 574 Seiten, EUR 26

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