Die Übernahme des Ostens

Von Benedikt Bögle

Noch dreißig Jahre nach dem Mauerfall sind die Menschen im Westen und Osten dieses Landes nicht gleich. Sie verdienen unterschiedlich, sie zeigen ein differentes Wahlverhalten. Noch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung scheint es, als sei das Land noch nicht recht wiedervereinigt. Der Titel von Ilka-Sascha Kowalczuks neuer Veröffentlichung lässt Ähnliches annehmen: „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“. Das neue Buch des Historikers ist bei C.H. Beck erschienen.

Kowalczuk zeichnet zunächst die historische Entwicklung der Jahre 1989 und 1990 nach, er zeigt, wie immer mehr Menschen auf die Straße gingen und friedlich den Mauerfall und freie Wahlen erreichten. Der Historiker zeigt aber auch, wie sich von Anfang an eine gewisse Überheblichkeit der Westdeutschen breit machte. Sicherlich: In Ostdeutschland waren plötzlich Juristen gefragt, Verwaltungsleiter, Menschen, die sich mit dem Recht und den Strukturen der Bundesrepublik auskannten. Das Gefühl aber entstand, es handle sich eigentlich nicht um eine Wiedervereinigung, sondern um eine Übernahme des Ostens durch den Westen.

Das zeigte auch die juristische Natur der Wiedervereinigung. Man entschied sich, die neu entstandenen ostdeutschen Bundesländer sollten dem Geltungsbereich des bestehenden Grundgesetzes beitreten. Ebenfalls denkbar wäre aber auch ein Vorgehen nach Art. 146 des Grundgesetzes denkbar gewesen: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, wie es in der aktuellen Fassung heißt. Das wiedervereinigte Deutschland hätte sich eine neue, gemeinsame Verfassung geben können.

Für die Menschen in Ostdeutschland änderte sich durch die Wiedervereinigung vieles – nicht wenige verloren ihren Job oder wurden mit 55 Jahren bereits in Rente geschickt und tauchten damit in keiner Arbeitslosenstatistik auf. Viele Betriebe wurden von großen Unternehmen aufgekauft, die eigentlich kein großes Interesse hatten, Arbeitsplätze zu erhalten. Mit dem Verlust von Arbeitsplätzen war oft auch ein Verlust des sozialen Umfeldes verbunden.

Ilko-Sascha Kowalczuk erzählt eine Geschichte Ostdeutschlands nach 1989, die in vielen Teilen eben auch seine eigene, persönliche Geschichte ist. Daraus entsteht ein gleichzeitig sehr sachliches, aber auch persönliches Buch, das dialektisch Lösungsansätze und historische Deutungen diskutiert. Am Ende bleibt die Einsicht: Einheit ist ein Prozess.

Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde
C.H. Beck 2019, 319 Seiten, EUR 16,95

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