Von Benedikt Bögle

Wer Auszüge aus der Heiligen Schrift als „Florilegium“ veröffentlicht, begibt sich immer in eine Gefahr: Die Bücher der Bibel sind über Jahrhunderte entstanden; ebenfalls über Jahrhunderte bildete sich ein fester Kanon heraus, der festlegt, welche Bücher in welcher Reihenfolge zur Bibel gehören sollen. Die Bibel bildet so eine Einheit; sie ist nicht nur eine Bibliothek verschiedener Bücher, aus denen man sich bedienen kann. Gleichzeitig kann man natürlich Verständnis aufbringen für das Projekt, einzelne Texte der Heiligen Schrift herauszunehmen und zu veröffentlichen – etwa besonders wichtige, wirkmächtige oder auch schöne Texte. Diese Projekte sind mal mehr, mal weniger gelungen. Ein leider besonders schlechtes Beispiel für einen Auszug aus der Heiligen Schrift bietet ein bei Diogenes erschienener Band: „Die Bibel. Eine Auswahl der schönsten Geschichten und Dichtungen in der Übertragung von Martin Luther“.
Zusammengestellt wurde diese Auswahl von Daniel Keel. Leider begründen weder ein Vorwort noch ein Nachwort noch eine auch nur knappe editorische Notiz, nach welchen Kriterien diese Auswahl erfolgte. Man kann also nur annehmen, dass es sich einfach um Texte handelt, die Daniel Keel – aus welchem Grunde auch immer – für versammlungswürdig gehalten hat. Dazu gehören die Bücher Genesis und Exodus, die Geschichte von König David, Hiob, von einigen Propheten, schließlich die Dichtungen Salomos, einige Psalmen und das Matthäusevangelium. Sicher, jede Auswahl ist subjektiv und muss das auch sein. Aber passt es wirklich, einfach nur ein Evangelium herauszupicken – und aus dem Neuen Testament die ganze Apostelgeschichte, die komplette Briefliteratur und die Offenbarung des Johannes zu tilgen? Wäre nicht auch aus Levitikus, Numeri und Deuteronomium, aus den frühen Geschichtsbüchern irgendetwas von Bedeutung zu bieten gewesen?
Am weitaus schwersten wiegt aber, dass die Fundstellen der biblischen Bücher einfach nicht angegeben sind. Das erste Kapitel lautet: „Die Geschichte von der Erschaffung der Welt“, gemeint ist das Buch Genesis. Hätte man nicht angeben können, dass der Text dem Buch Genesis entnommen ist? Hätte man nicht wenigstens die Kapitelangaben bieten können? Hätte man dem Leser nicht wenigstens sagen können, ob das Buch Genesis zur Gänze abgedruckt wurde oder in Auszügen? So liegt es mit ausnahmslos allen Texten; nur bei den Psalmen wird die jeweilige Nummer angegeben. Am schwersten wiegt das bei dem Abschnitt zu den Propheten. Dieser ist aus mehreren biblischen Büchern zusammengewürfelt – aus welchen Büchern und welchen Kapiteln bleibt dem Leser aber ein Rätsel.
So geht man mit der Bibel nicht um – ebenso wie man mit anderen Texten der Weltliteratur so nicht umgehen würde. Auch bei einem Florilegium der schönsten Texte Homers oder Goethes oder der antiken Dichtung oder des Sturm und Drang dürfte man als Leser erwarten, dass angegeben wird, woher die Texte stammen. Der Band hat das Ansinnen, die Bibel auch als ein Stück Weltliteratur zu zeigen; das ist ja auch lobenswert. Dann aber hätte man die Bibel auch als Literatur mit Fundstellen, Kontext und wenigstens einer editorischen Notiz behandeln müssen.
Die Bibel. Eine Auswahl der schönsten Geschichten und Dichtungen in der Übertragung von Martin Luther
Diogenes 2022, 568 Seiten, EUR 14
Copyright des Bildes: Diogenes