Von Benedikt Bögle

„Hört infolge eines Krieges oder eines anderen Ereignisses die Tätigkeit des Gerichts auf, so wird für die Dauer dieses Zustandes das Verfahren unterbrochen.“ Diese Vorschrift – § 245 ZPO – dürfte zu den eher unbekannten Normen des Zivilprozesses gehören. Für Benjamin Lahusen, Professor für Bürgerliches Recht in Frankfurt, wurde sie zum Ausgangspunkt seiner Habilitationsschrift. Auf den ersten Blick ist es selbstverständlich: Wenn das Gericht aufgrund eines Krieges nicht mehr arbeiten kann, dann werden die Verfahren unterbrochen. Was soll auch sonst geschehen mit den anhängigen Prozessen, wenn es kein Gericht mehr gibt, das Urteile spreche könnte? Für Lahusen steht noch mehr dahinter: Selbst der Zustand der Rechtlosigkeit ist noch juristisch definiert. „Justitium“ nennt sich dieser seltsame Zustand zwischen Recht und Rechtlosigkeit. Lahusens bei C.H. Beck erschienen Monographie „Der Dienstbetrieb ist nicht gestört“ beschäftigt sich mit der deutschen Justiz zwischen 1943 und 1948 – in einer Zeit also, in der man annehmen könnte, der Zustand der Rechtspflege hätte das „Justitium“ erreicht, die Tätigkeit der Gerichte hätte geendet. Dem war aber nicht zwingend so, stellt Lahusen heraus.
„Der Dienstbetrieb ist nicht gestört“ ist eine außergewöhnliche Schrift. Das liegt am Fokus, den der Autor wählt. Er schreibt über die NS-Justiz nicht mit einem Schwerpunkt auf das Außergewöhnliche. Lahusen referiert nicht über die nationalsozialistische Gesetzgebung, nicht über Freislers Schau-Prozesse, nicht über die augenfällige Rechtlosigkeit in der Diktatur. Im Gegenteil: Es geht gerade um das Gewöhnliche. „Deshalb wurde die Blickrichtung in diesem Buch verschoben. Im Mittelpunkt steht nicht das, was uns vom Nationalsozialismus trennt, sondern das, was wir mit ihm teilen: das Normale“, schreibt Lahusen. Es geht um: „Mietrecht, Eherecht, Beleidigungen, leichte Körperverletzungen, Fälle also, die bei Gericht mit einer routinierten Sachlichkeit rechnen dürfen.“
Lahusen beschreibt einerseits eine Justiz, die unter den Bedingungen des Krieges zu arbeiten versuchte. Es wirkt gerade lächerlich, wenn zahlreiche Gerichte zwar ausgebombt wurden, beinahe alle Akten vernichtet waren, die Direktoren und Präsidenten der Gerichte aber dennoch vermeldeten, der Dienstbetrieb laufe geradezu ungestört weiter. Zahlreiche Gerichte flohen gar vor der nach Deutschland vordringenden Frontlinie, gaben sich aber dennoch den Anschein fortlaufender Funktionalität: In Zeiten des Krieges wollte man sich in Deutschland den Niedergang nicht eingestehen – auch nicht in der Rechtspflege. Benjamin Lausen beschreibt etwa eingehend, was das entscheidende juristische Problem in Auschwitz war: Die Grundbücher in Ordnung zu bringen.
Was Benjamin Lahusen so gelingt, ist eine erstaunliche Geschichte der NS-Justiz, in der er sich gerade nicht auf die ganz offensichtlichen Rechtsbrüche konzentriert, sondern auf die – scheinbare – Normalität. Er legt somit offen, wie das Recht auch dazu dienen konnte, der Terrorherrschaft den Anschein der Normalität zu geben. Während in Auschwitz tausende Menschen ermordet wurden, mussten doch die Grundbücher ordentlich geführt sein. Den Juristen wird sein Band so zur Mahnung: Wie schnell kann das Recht dazu dienen, nicht Gerechtigkeit zu verwirklichen, sondern Unrecht zu manifestieren. In einem ganz eigenen, beinahe schon literarischen Stil referiert der Autor eine umfassende Auswertung von Archiven – und schafft es dennoch, den Leser nicht zu ermüden, sondern mit Spannung zu unterhalten. „Der Dienstbetrieb ist ungestört“ ist ein wichtiger Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte, der jedem Juristen, ebenso aber allen historisch Interessierten nur ans Herz gelegt werden kann.
Benjamin Lahusen: „Der Dienstbetrieb ist nicht gestört“. Die Deutschen und ihre Justiz 1943-1948
C.H. Beck 2022, 384 Seiten, EUR 34
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