Von Benedikt Bögle
Jerry Burton hatte einen Unfall; eigentlich will er sich auf dem Land erholen und zieht mit seiner Schwester Joanna in die kleine Stadt Lymstock. Nur kurz nach ihrer Ankunft erhalten die beiden einen bösen Brief: Er unterstellt ihnen, sie seien gar nicht Bruder und Schwester – sondern in Wahrheit ein heimliches Liebespaar. Die beiden tun es ab, halten es für einen schlechten Scherz. Bald aber finden sie heraus, dass auch andere Bewohner der Stadt solche Briefe bekommen. Allen möglichen Leuten werden alle mögliche Affären in den Briefen nachgesagt. Die Polizei mag zunächst niemand einschalten – dann aber gibt es das erste Opfer: Die Frau des Rechtsanwaltes bekommt einen Brief, der ihr Ehebruch vorwirft. Sie bringt sich selbst um – so zumindest das Urteil der Öffentlichkeit. Nun aber beginnt die Polizei zu ermitteln. Die Briefeschreiberin müsse eine einsame, rachsüchtige, gebildete Frau sein. Nur kurz darauf fordert die Briefeschreiberin ihr zweites Todesopfer.

„Die Schattenhand“ ist ein sehr gelungener Roman von Agatha Christie. Die Ermittlerin Miss Marple tritt erst sehr spät auf, löst dann aber in der gewohnten Kombination aus Intelligenz und Menschenkenntnis den Fall. Der Schlüssel sind die Vorwürfe selbst; sie stimmen nicht. Die Menschen tun es ab: „Wo Rauch ist, da ist auch Feuer“. Miss Marple aber bemerkt bald, dass in dem kleine Städtchen kaum ein Geheimnis verborgen bleiben kann. Die Täterin hätte also wahre Vorwürfe in ihren Briefen verbreiten können. Wieso erfindet sie Geschichten, die nicht stimmen können? Agatha Christie nimmt in diesem Roman die Geisteshaltung der ständig über andere sprechenden Gesellschaft auf die Schippe: Die Bewohner der Stadt scheinen sich an den zirkulierenden Vorwürfen beinahe zu ergötzen – und geben so einem ausgefeilt vorgehenden Täter die Gelegenheit zum Mord.
Agatha Christie: Die Schattenhand
Atlantik, 3. Aufl. 2020, 239 Seiten, EUR 12