Von Benedikt Bögle

In der Geschichte der Kirche gab es immer wieder monumentale Berufungsereignisse: Saulus sieht den auferstandenen Herrn und fällt vom Pferd, Augustinus schlägt die Bibel an einer willkürlichen Stelle auf und wird ins Herz getroffen, dem heiligen Martin begegnet Christus selbst im Traum. Dabei ist Berufung nicht nur etwas für die großen Heiligen der Geschichte; sie geht jeden Christen und jede Christin etwas an, jeden, der auf den Ruf Gottes hören möchte, der an ihn ergeht. Diesem großen Thema christlicher Spiritualität nähern sich der Journalist Rudolf Gehrig und der Passauer Bischof Stefan Oster in einem bei Herder erschienen Band: „Den ersten Schritt macht Gott. Über Erfüllung, Berufung und den Sinn des Lebens.“
Das kleine Büchlein geht zurück auf eine Interviewreihe, die der Journalist Gehrig mit dem Bischof für den Fernsehsender EWTN führte. Und je länger man liest, desto eher hat man den Eindruck: Einen passenderen Gesprächspartner hätte Gehrig nicht finden können. Stefan Oster hatte eine Karriere als Radiomoderator begonnen und lebte in einer Beziehung. Er merkte allerdings, dass Gott andere Pläne für sein Leben hatte, wurde Salesianer, Priester, schließlich Bischof. Das Gespräch mit Oster ist damit auch ein sehr persönliches. Das ist bemerkenswert in zweierlei Hinsicht: Gehrig zögert nicht, auch private, vielleicht sogar ein wenig unangenehme Fragen zu stellen – Bischof Oster dagegen zögert ebenso wenig, diese Fragen auch ehrlich zu beantworten.
Die beiden kreisen um die Frage, was Berufung eigentlich ist und wie man sie spüren kann, was geschieht, wenn man der Berufung nicht folgt. Sie klammern dabei die schwierigen Fragen unserer Zeit nicht aus: Wie unterscheidet die Kirche bei Berufungen, wenn es etwa darum geht, eine Person zum Priester zu weihen oder nicht? Wie rechtfertigt die Kirche den Zölibat und die Priesterweihe ausschließlich für Männer? Welche Strahlkraft hat Kirche noch angesichts des Missbrauchs? Bischof Oster ist um ehrliche und persönliche Antworten alles andere als verlegen.
Der Dialog der beiden Autoren überzeugt: Gehrig ist ein geschickter Interviewer, der spannende Nachfragen stellt und immer wieder eine ordentliche Prise Humor beisteuert. Stefan Oster dagegen beantwortet diese Fragen durchgängig verständlich, nachdenklich, persönlich und vor allem ohne in leere Floskeln abzudriften. Hier sind sich zwei Menschen begegnet, die ihre eigenen Erfahrungen mit einem Ruf Gottes gemacht und reflektiert haben. Ihr Gespräch legt Zeugnis davon ab – und zeigt damit auch: Die Kirche kennt viele Berufungen. Die des ehelosen Bischofs wie die des verheirateten Journalisten.
Bischof Stefan Oster / Rudolf Gehrig: Den ersten Schritt macht Gott. Über Erfüllung, Berufung und den Sinn des Lebens
Herder 2021, 174 Seiten, EUR 16
Ein Kommentar zu „„Den ersten Schritt macht Gott“. Bischof Stefan Oster über Berufung“