Von Benedikt Bögle

2020 jährte sich die deutsche Einheit zum 30. Mal. Und dennoch bleiben Fragen, bleiben Wunden. Immer wieder wird ja auf die Unterschiede von Ost und West hingewiesen; etwa beim Lohnniveau. Wie sieht es nun aus: Sind wir ein Volk geworden, 30 Jahre nach der Einheit? Dieser Frage geht ein Sammelband nach, der von Freya Klier herausgegeben wurde und bei Herder erschienen ist: „Wir sind ein Volk! Oder?“ Verschiedene Texte unterschiedlichster Personen sind hier versammelt – von Bürgerrechtlern über Künstler bis zu Politikern. In drei Akten gehen sie der Frage des Titels nach: Zunächst stehen da Texte unter dem Titel „Das Ausatmen beginnt“ – das meint die Phase vor dem Mauerfall. Danach heißt es: „Erstes Kennenlernen“, die Texte beschäftigen sich hier vornehmlich mit der Zeit zwischen Mauerfall und Einheit. Den Blick in Gegenwart und Zukunft eröffnet der dritte Teil: „Die Teilung überwinden heißt teilen lernen.“ Das besondere an diesem Band ist die bunte Mischung. Die kurzen Essays können als Schlaglichter auf die Titelfrage verstanden werden, sie mischen Perspektiven aus Ost und West, von Menschen, die beim Mauerfall jung waren oder schon in fortgeschrittenem Alter. So entsteht ein buntes Bild mit unterschiedlichen Wertungen. Und letztlich wird die Frage des Titels nicht beantwortet. Das „oder?“ bleibt eine Frage an den Leser, die sich womöglich eindeutigen Antworten ohnehin entziehen muss. Ein sehr lesenswerter Band.
Freya Klier (Hg.): Wir sind ein Volk! Oder?
Herder 2020, 220 Seiten, EUR 20