Von Benedikt Bögle
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsere Schuldigern.“ Diesen Satz richten wir im Vaterunser an Gott, gewohnt kommt er über unsere Lippen, wir denken gar nicht so recht über seinen Gehalt nach. Was aber, wenn doch? So ging es dem Journalisten Andreas Unger. Eines Tages traf ihn dieser Satz während des Gottesdienstes und er fragte sich, wie Vergebung gelingen kann. Wie können Menschen Opfer von schlimmsten Verbrechen werden und ihren Peinigern dennoch vergeben? Diese Fragen stellte sich Unger und besuchte Menschen, die in außergewöhnlichem Maße vergeben haben. Das Ergebnis seiner Recherchen stellt Unger in einem Buch vor: „Vergebung. Eine Spurensuche“, erschienen im Herder-Verlag.
Vergebung für den Mörder
Die erste große Frau des Buches ist eine Mutter. Ihre Tochter starb beim Amok-Lauf von Winnenden, sie war Referendarin an der Schule dort. Lange unterdrückte sie all ihre Gefühle: „Mein Gefühlsleben war erstarrt, wie tot. Mit den Gefühlen ist es nämlich so: Sie können den Deckel darauf halten, aber dann auf allen Gefühlen: auf Trauer, Verzweiflung, Wut, Hass und was da sonst noch ist. Was nicht geht, ist ein selektives Aufarbeiten“. Irgendwann beschäftigte sich die Mutter mit dem Täter, mit seinen Verwundungen, mit seinem Hass auf das Leben. Aus dem Täter wird ein Mensch. Andreas Unger schreibt: Wer sich mit dem Täter auseinandersetzt, beginnt ihn zu verstehen, wer versteht, kann sich einfühlen, und wer Mitgefühl spürt, kann nicht mehr hassen.“ Ein Baustein zum Verständnis der Vergebung.
Vergebung im Westjordanland
Weiter geht es in Ungers Buch mit einer Frau, die von ihrem Ehemann vergewaltigt wurde. Wie kann sie ihm verzeihen? Geht das überhaupt? Schwer ist es, ein langer Prozess – und ein weiterer Baustein zur Vergebung. So wie die Geschichte von Ismael Khatib, der im Westjordanland lebt. Ein israelischer Soldat erschoss seinen Sohn, Ismael entscheidet sich, die Organe des Kindes zu spenden. Ob sie an einen Palästinenser oder einen Juden gehen sollen, spielt für ihn keine Rolle. Hauptsache, ein Kind kann überleben. Angesichts des Todes verschwimmen für ihn die umkämpften Grenzen und der lange aufgestaute Hass im Heiligen Land. Auch eine Möglichkeit der Vergebung.

Vergebung für Dr. Mengele
Eva Mozes Kor litt im Konzentrationslager von Auschwitz unter den Menschenversuchen von Dr. Mengele und seinen Mitarbeitern. Auch sie konnte eines Tages allen Nazis vergeben. Berührend ist auch die Geschichte von Maria Hiller. Sie hat ihr Kind abgetrieben und sieht sich eines Tages mit eigener Schuld konfrontiert. Vergeben kann nur sie selbst sich – ein schwieriger Prozess. Geholfen haben ihr die Absolutionsworte aus der Beichte. Vergebung in der anderen Richtung.
Andreas Unger hat ein wunderbares Buch geschrieben. Es ist keine dogmatische Abhandlung, keine von unzähligen Definitionen durchwachsene Monographie. Eigentlich ist es eine Sammlung von Essays und Reportagen, die einer großen Frage nachgehen: Wie kann man das Unverzeihliche – Mord, Vergewaltigung, Menschenversuche – vergeben? Unger hat aus seinen Protagonisten keine Heiligen gezeichnet, sondern ihrer Menschlichkeit, ihrem Leid und ihrer Ratlosigkeit viel Raum gegeben. Ein ideales Buch, um über Vergebung nachzudenken.
Andreas Unger: Vergebung. Eine Spurensuche
Herder 2019, 185 Seiten, EUR 20