Von Benedikt Bögle
Missbrauch beschäftigt die katholische Kirche mindestens seit 2010, als eine Vielzahl sexueller und gewalttättiger Missbrauchsfälle bekannt wurde. Neben den genannten Formen des Missbrauchs kann es aber auch den sogenannten „Spirituellen Missbrauch“ geben. Autorin Doris Wagner hat sich mit ihm beschäftigt, nun ist ihr Buch „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ bei Herder in Freiburg erschienen. Wagner selbst wurde Opfer, als sie der geistlichen Gemeinschaft „Das Werk“ angehörte. Was aber ist „Spiritueller Missbrauch“ eigentlich? Doris Wagner klärt diese Frage behutsam, Schritt für Schritt. Eine Definition ist nicht ohne Klärung des Begriffs „Spiritualität“ möglich.
Was ist Spiritualität?
Spiritualität sei, so Doris Wagner, die Fähigkeit, Dingen eine Bedeutung zu geben. Wer den Widerständen des Lebens positive Deutungen entgegensetzen kann, ist im Vorteil: „Das heißt, Menschen können auch extrem belastende Situationen überwinden, wenn es ihnen gelingt, ihnen einen Sinn zu geben. So gesehen ist Spiritualität die Fähigkeit, mit der wir uns vor Sinnlosigkeit schützen“, schreibt Wagner. Wichtig sei in diesem System die „spirituelle Handlungsfähigkeit“, der selbstständige Umgang mit der eigenen Spiritualität und ihren Quellen. Und genau hier wird eine erste Schnittstelle mit Missbrauchserfahrungen deutlich: Manche Menschen haben – aus welchen Gründen auch immer – keine großen spirituellen Ressourcen und sind intensiv auf Leitung angewiesen, die natürlich missbraucht werden kann.

Geistlicher Missbrauch
„Geistlicher Missbrauch ist die Verletzung des spirituellen Selbstbestimmungsrechtes. Durch diese Verletzung werden Menschen in spirituelle Not gebracht“, schreibt Wagner – und belegt diese Aussagen mit zahlreichen Erfahrungen von Menschen in katholischen Gemeinschaften. Was Wagner „Missbrauch“ nennt, kann dezidiert auch unabsichtlich geschehen. Das kann etwa durch spirituelle Vernachlässigung geschehen: Eine Mutter – so berichtet ein reelles Beispiel – verliert in der achten Schwangerschaftswoche ihr Kind und wünscht eine Form der Bestattung auf dem Friedhof. Eine Seelsorgerin lehnt mit dem Hinweis ab, man könne dann ja auch gleich Tiere bestatten. Diese übrigens auch im Widerspruch zum katholischen Glauben stehende Aussage zeigt, was Wagner mit Spiritueller Vernachlässigung meint: Hier sieht ein geistlicher Begleiter das Leid seines Gegenübers nicht und versucht, die eigene Spiritualität überzustülpen. Das kann nicht gelingen. Eine derartige Vernachlässigung beobachtet Doris Wagner auch bei Christen, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind und im Rahmen einer geistlichen Begleitung ihr Leid aufarbeiten möchten.
Spirituelle Manipulation
Dazu kommt noch die Spirituelle Manipulation, die auf dem scheinbaren Fundament spiritueller Begründung Menschen gefügig machen kann. Etwa, wenn eine junge Ordensfrau während den ersten Jahren, die ja ausdrücklich auch für das Finden des richtigen Weges da sind, merkt, dass das Klosterleben nichts für sie ist. Diese Erfahrung bedarf der Deutung. Eine Deutung wäre, einzusehen, dass diese Lebensform etwas für andere, aber nicht für sich selbst sein muss. Eine andere Deutung wäre, die Person sei schwach und sündig. Und genau das kann man Menschen einreden. Aus einer spirituellen Selbstbestimmtheit – ich stehe auf der Deutung des Lebens, die ich für plausibel halte – wird die ungeprüfte Übernahme anderer Deutungen.
Fallbeispiele
Die zahlreichen Beispiele zeigen die Brisanz des Themas. Wagners Buch leistet einen wichtigen Beitrag in den Debatte um Missbrauch. Denn ihre Ausführungen bleiben nüchtern. Die Autorin nimmt sich Zeit und Raum, ganz deutlich zu machen, wie sie „Spiritualität“ versteht und welche Facetten dieses Begriffs sie ausmachen möchte. Dann erklärt sie – wieder nüchtern und objektiv – die Gefahren des Missbrauchs spiritueller Selbstständigkeit. Das Buch sei daher allen Seelsorgerinnen und Seelsorgern empfohlen. Es zeigt, was mit Menschen passieren kann, deren geistliche Bedürfnisse nicht gesehen oder gar mit Füßen getreten wurden.
Doris Wagner: Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche
Herder, 28. Januar 2019, 207 Seiten, EUR 20